Engelbrecht-Buch: Der unendliche Streit um die Gesamtschule
Buch bei new academic press soeben erschienen.
Der am 23. November im Alter von 90 Jahren verstorbene Doyen der historischen Erziehungswissenschaft, Helmut Engelbrecht, hat kurz vor seinem Tod seines letztes Werk vorgelegt: „Unendlicher Streit durch die Jahrhunderte – Vereinheitlichung oder Differenzierung in der Organisation der österreichischen Schulen“. Er hat damit ein Thema aufgegriffen, dass nach der von der Industriellenvereinigung ausgerufenen „Bildungsrevolution“ mit der Forderung nach der Gesamtschule aktueller denn je ist. Helmut Engelbrecht hat mit der für sein ganzes wissenschaftliches Werk kennzeichnenden Akribie zahllose Quellen ausgewertet. Er spannte den Bogen vom 18. Jh. bis zu den heutigen Entwicklungen wie Zentralmatura und Bildungsstandards.
Es mag überraschen, dass Kaiser Joseph II. schon 1781 eine Vereinheitlichung der Schultypen wünschte, da „eine Verbindung der lateinischen mit den Normalschulen höchst notwendig sey.“ Er sah darin eine Möglichkeit, Staatsausgaben einzusparen. Er scheiterte am Widerstand der humanistisch ausgerichteten Gymnasiallehrer. Das kommt einem bekannt vor.
Der Autor bringt die zahlreichen Erneuerungsversuche der letzten Jahrhunderte. Das verwirrt den Leser etwas, weil man bald nicht mehr weiß, welche Schulformen tatsächlich gerade aktuell waren. Jedenfalls zeigt er deutlich auf, dass nach Versuchen die Schulformen zusammenzulegen, meist eine noch größere Differenzierung entstanden ist. 1805 wurde nach deutschem Vorbild die Realschule eingeführt. Als man diese 1849 mit den Gymnasien zusammenlegen wollten, scheiterte man wieder an den Gymnasiallehrern, welche die Kürzung des Lateinunterrichts befürchteten. Schließlich entstand aus diesen Bestrebungen 1908 das Realgymnasium als neuer Schultyp.
Schon damals forderte Otto Glöckel für die Sozialdemokraten eine Einheitsschule, zu der sich dann nach dem Ersten Weltkrieg die Bürgerschule entwickeln sollte. Die Gründe waren dieselben wie heute: Minderung der sozialen Gegensätze und Hebung des Bildungsniveaus. In der in Wien erprobten “Allgemeine Mittelschule“ unterrichteten damals auch schon freiwillige Gymnasiallehrer. Der Beitrag zur sozialen Integration war allerdings gering und das Niveau lag unter dem der Bürgerschule. Wien wurde dennoch zum Mekka der Schulreformer. Die stramm marxistisch-antiklerikale Haltung Glöckels forderte jedoch den Widerspruch der Christlichsozialen heraus. Engelbrecht bezeichnete das als die „ideologische Wende“ in der Schulpolitik.
Fortan ging es weniger um in Schulversuchen erprobte tatsächliche Verbesserungen, sondern um ideologische Standpunkte. Die Sozialdemokraten hatten immerhin ein einheitliches Ziel, die Christlichsozialen waren uneinig, die Industriellen neigten eher der Vereinheitlichung zu. Auch das kommt einem bekannt vor.
Die Schulgesetze 1962 brachten die zweizügige Hauptschule, die Realschule wurde abgeschafft. Fortan gab es drei Typen der Allgemeinbildenden höheren Schulen sowie Berufsbildende höhere Schulen. In den Pädagogischen Akademien sollte nach dem Wunsch der SPÖ eine gemeinsame Lehrerbildung erfolgen.
In den 70er-Jahren gab es wieder Gesamtschulversuche. Aus der Integrierten Gesamtschule wurde die Hauptschule mit den drei Leistungsgruppen in Deutsch, Englisch und Mathematik. Die Langform des Gymnasiums blieb erhalten.
Die ab 2012 eingeführte Neue Mittelschule gleicht dem über hundert Jahre alten Konzept Glöckels fast auf Punkt und Beistrich. Engelbrecht zeigte auf, dass es wieder um Ideologie geht: Der Schultyp wurde ohne Evaluierung flächendeckend eingeführt. Er scheute sich nicht, an der gegenwärtigen Schulpolitik Kritik zu üben, und rief in seinem Ausblick zu mehr Sachlichkeit und faktenbasierter Politik auf.
Ein wichtiges Buch, das einen umfassenden Überblick über die Entwicklung des Schulwesens in Österreich in den letzten 250 Jahren gibt, und Verständnis für die politische Entwicklung zu vermitteln vermag.
Johann Sohm
Engelbrecht, Helmut:
Unendlicher Streit durch die Jahrhunderte – Vereinheitlichung oder Differenzierung in der Organisation österreichischer Schulen. new academic press. Wien 2014.
ISBN 978-3-7003-1909-2, € 19,90